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Kirche St. Martin, Schlier. Ehemalige Altäre von Theodor Schnell d. Ä.
Text: Dr. Ralf Reiter
Die St. Martins-Kirche in Schlier ist ein vergleichsweise junges Bauwerk. Noch keine 200 Jahre sind vergangen, dass die 1823 errichtete Pfarrei ein neues Gotteshaus bekam. Der Bau ist dem sogenannten „Kameralamtsstil“ zuzuordnen, der typisch ist für den Kirchenbau dieser Zeit. Die Kirche stand im Königreich Württemberg bis 1862 unter staatlicher Oberhoheit und diese Herrschaft führte zu einem sehr schlichten, dem Verdikt der Sparsamkeit folgenden sakralen Bauwesen. Die erste Ausstattung folgte wohl dem um 1830 noch vorherrschenden spätklassizistischen Stil.
Zwanzig Jahre später sah die Situation dann ganz anders aus. Zur wiedererlangten Selbständigkeit der Kirche kam ein neues Selbstbewusstsein des Katholizismus. Und der künstlerische Ausdruck dieses Selbstbewusstseins war der neugotische Stil. Damit sollte an die vermeintliche glorreiche Zeit des Mittelalters angeknüpft werden und es ist bemerkenswert, dass die Kirche in Schlier bereits 1865 mit einem neugotischen Hochaltar ausgestattet wurde. Dieser und die Seitenaltäre sind eine der ersten Schöpfungen des aus der Bischofsstadt Rottenburg stammenden Bildhauers Theodor Schnell dem Älteren (1836-1909), die er nach seiner Niederlassung 1863 in Ravensburg gefertigt hat.
Schnell schuf zahlreiche Werke der sakralen Kunst, unter anderem auch den noch erhaltenen Hochalter der Kirche St. Peter und Paul in Zürich (1883). Das Haus seiner Familie steht noch heute in der „Pfannenstiel“ genannten Ravensburger Vorstadt, direkt an den Bahngleisen. Kurz nach der Fertigstellung des Schlierer Hochaltars erschien in dem Buch „Altdorf“ von M. Grimm eine wertvolle Beschreibung dieser Arbeit. Diese beginnt mit den Worten: „Dieser Altar ist eine Votivstiftung der ehrsamen Wittwe M. Anna Rist, geb. Neher von Schlier. Der Maler und Bildhauer Schnell aus Ravensburg fertigte ihn trotz der künstlerisch reichen und präcisen Ausstattung mit Statuen und Gemälden um die Summer von 1500 fl.“ Detailliert geht er auf die Bestandteile des Hochaltars ein: die Muttergottes mit dem Jesuskind über dem Tabernakel, die Statuen von Petrus und Paulus, St. Joachim und Anna in den Seitennischen, und die gemalten Bilder des Kirchenpatrons St. Martin und der Hl. Elisabeth darüber. Das Antependium zierten Reliefs der Evangelisten und ein Salvator. Das Retabel (Aufbau) war reich geschmückt mit Spitzbögen, Fialen, Kreuzblumen und anderem Zierrat im Geiste der alten Gotik. Im Heimatbuch von Pater Columban Buhl sind die genannten Bestandteile auf den historischen Fotografien (S. 116 und S. 138) teilweise zu identifizieren.
Diese herrlichen Arbeiten erlitten leider das Schicksal der meisten neugotischen Kirchenausstattungen. In der Nachkriegszeit wurde die Neugotik als „geschmacklos“ und „künstlerisch wertlos“ abgelehnt und somit auch die Schliere Altäre wohl 1975 entfernt. Die Gedankenwelt des Historismus wurde nicht mehr verstanden. Erst seit den 1980er-Jahren hält die staatliche Denkmalpflege ihre schützende Hand über die erhaltenen Reste. So können wir in unserer näheren Umgebung wenigstens noch einige Zeugnisse der sakralen Kunst aus dieser Zeit bewundern. Genannt sei zuerst im Stil der Neurenaissance die Altarausstattung von St. Gangolf/Wolpertswende (1891 von Moriz Schlachter). Der gleichnamige Sohn des älteren Schnell und spätere Professor (1870–1938) schuf später eine ganze Reihe herausragender Werke: so z. B. im „Schussentaldom“ von Mochenwangen von 1904. Hier verdeutlichen die Altäre den beginnenden Übergang vom neuromaischen Historismus zum Jugendstil. Bekannt ist auch der neugotische Hochaltar in Wangen (St. Martin 1901). Hingewiesen sei auch auf die prachtvollen 5 Altäre in der Bregenzer Herz-Jesu-Kirche (ab 1911), die den noch weiter fortgeschrittenen Übergang zum Jugendstil besonders gut verdeutlichen. Das 1926 eingeweihte Kriegerdenkmal auf dem Schlierer Friedhof, ebenfalls vom jüngeren Schnell, ist dann bereits ganz der Ornamentik des Jugendstils verpflichtet.
Artikel zu Theodor Schnells bildhauerischem Wirken in Ravensburg
Lesen Sie hier den ausführlichen Artikel (PDF-Datei) zu Theodor Schnells bildhauerischem Wirken in Ravensburg: „Jahrhundertelang ein hervorragendes Kunstdenkmal der Stadt – die neugotische Ausstattung der Ravensburger Liebfrauenkirche um 1900" von Dr. Ralf Reiter in „Altstadtaspekte", herausgegeben vom Bürgerforum Altstadt Ravensburg e. V., 2009.